Urteil im zweiten Prozess gegen Land Hessen vom 23. April 2021
Am 23.04.2021 – dem dritten Jahrestag der versuchten Abschiebung – wurde der zweite von drei Einzel-Prozessen gegen das Land Hessen geführt. Es ging um die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Zwangsmitteln während dem nächtlichen Polizeieinsatz. Damals war die Polizei mit brutaler Härte gegen friedlich Demonstrierende vorgegangen, die gegen die rechtswidrige Abschiebung Zivilcourage zeigten. Es gab einen Massenanfall von Verletzten. Unmittelbar im Anschluss verbreitete die Polizei Pressemitteilungen mit frei erfundenen Darstellungen, die jedoch von vielen Redaktionen unhinterfragt in die Berichterstattung aufgenommen wurden.1
Mündliche Verhandlung am 23.04.2021 vor dem Verwaltungsgericht Kassel
Zunächst schilderte der Kläger die Gewaltexzesse der eingesetzten Beamt*innen: gezieltes Sprühen von Pfefferspray ins Gesicht aus naher Distanz, aggressivesUmrennen, brutales Zusammenknüppeln mit Schlagstöcken auch bereits sich am Boden befindender Personen und Hetzen eines Diensthundes in die Menschenmenge. Der Kläger führte aus,dass er nach dem Polizeieinsatz 2 Wochen krank geschrieben war und eine dauerhafte Knieverletzung davontrug und dass er während des Gewaltausbruchs Todesangst hatte.
Warum, wurde durch zwei Originalzitate verdeutlicht: So hatte ein Polizeibeamter einer unbeteiligten Passantin gegenüber aggressiv die Tötung ihres Hundes angedroht, und statt einer bewusstlos wirkenden Person Erste Hilfe zu leisten zogen zwei Polizeibeamt*innen die Person fahrlässig in einen Hausflur. Beim Ablegen sagte ein Beamter laut: „Soll er doch sterben. Ist mir scheißegal.“
Im Anschluss wurden die 5 Polizeizeug*innen angehört. Ihre Schilderungen der Geschehnisse waren wie zu erwarten tendenziös. Amelie, die die Polizeigewalt am 23.04.2018 selbst miterlebt hatte und die mündliche Verhandlung im Gerichtssaal verfolgte, sagt dazu: „Die Polizist*innen haben in dieser Nacht minutenlang auf uns eingeprügelt, auch auf Menschen die schon am Boden lagen. Jetzt im Gericht den Ausführungen der geladenen und damals unmittelbar beteiligten Polizeizeugen zuzuhören war haarsträubend. Sie hattenwenig gesehen, wenig gehört, wenig getan. Woher die über 20 von denNotärzt*innenbehandelten Demonstrant*innen ihre Verletzungen – inklusive Gehirnerschütterung und Verdacht auf Knochenbrüche – erhalten haben sollen, konnten sie auch nicht erklären. Stattdessen erfanden sie reihenweise „tätliche Angriffe“ von Seiten der Demonstrant*innen.
Ein Zeuge ging gar dazu über, von seinem „Helfersyndrom“ zu fantasieren: „Die festgesetzten Leute müssen schnell befreit werden, das würde ich auch für Privatpersonen genauso machen!“ Dass es eigentlichum eine rechtswidrige Abschiebung ging, dass hier eine Person nachts um halb eins von uniformierten Beamt*innen aus ihrem Bett gezerrt wurde obwohl sie einen gerichtlich festgelegten Abschiebestopp vorzeigen konnte und dannin Handschellen im Auto ausharren musste bis sie zum Flughafen gebracht wurde – das war ihm keine Erwähnung wert. Für diese Personhat sein Helfersyndrom definitiv nicht angeschlagen.“
Johanna ergänzt: „Einer der Einsatzleiter erzählte, noch in der Wohnung zugesichert zu haben dass auf der Dienststelle die Unterlagen geprüft werden würden und dass der Betroffene dort seinen Rechtsbeistand kontaktieren könne. Als er darauf angesprochen wurde dass beidesnachweislich nicht stattgefunden hat, räumte er ein, dass er es zwar in dem Moment zugesichert habe, ob das später aber wirklich passiere „liegt nicht mehr in seiner Verantwortung“.
Das passt gut zu anderen Lügen, die uns an dem Abend von Beamt*innen ins Gesicht gesagt wurden. Zum Beispiel auf der Polizeistation in Eschwege, als wir aggressiv aufgefordert wurden zu gehen, der Abzuschiebende sei sowie nicht mehr vor Ort sondern längst auf dem Weg zum Flughafen. Bis dann etliche Zeit später zwei Personen in die Zelle hinein durften um ihm einige persönliche Gegenstände zu geben. ImKlartext heißt das, dass das Wort von Cops im Einsatz *nichts* wert ist.“
Im Zuge verschiedener Verfahren im Zusammenhang mit der Abschiebung vom 23.04.2018waren bereitsskandalöse Einzelheiten zur Polizeiarbeit bekannt geworden: so empfahl die Polizei-Gewerkschaft den in der Nacht beteiligten Beamt*innen, keine Einsatzberichte zu verfassen, die Polizei nahm angebotenes Video-Beweismaterial nicht an sodass es inzwischen verloren ging und die Anzeige einer Betroffenen – und später selbst Angeklagten – wurde nie zur Akte genommen.
Auch diesmal kamen fragwürdige Hintergrundinformationen ans Licht: die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte im Nachgang die in der Nacht eingesetzten Polizeibeamt*innen zu einer gemeinsamen „Informationsveranstaltung“ ins Polizeipräsidium Nordhessen eingeladen. Es soll um Rechtsschutz und möglichen Rechtsbeistand für die Beamt*innen gegangen sein. Der Zeuge konnte sich auf Nachfrage jedoch plötzlich an keine Details mehr erinnern.
Rechtsanwalt Sven Adam hob hervor, dass es sich von Anfang an um eine Spontanversammlung gehandelt hat, dass die Polizei nicht an einer konstruktiven Klärung interessiert war, dass jegliche Form unmittelbaren Zwangs sowohl allgemein als auch einzeln hätte angedroht werden müssen und dass im gewalttätigen Handeln der Polizei auf keinen Fall Verhältnismäßigkeit gegeben war.
Im Verlaufe der Anhörungen wurde einheitlichbestätigt, dass in der Nacht die Schritte zur Auflösung einer Versammlungnicht durchgeführt wurden und dass der Einsatz von konkreten Zwangsmitteln (Pfefferspray, Schlagstock, Hund) weder zu irgendeinem Zeitpunkt gegenüber den Demonstrierenden angekündigt noch vom Einsatzleiter überhaupt freigegeben worden war. Die technischen Voraussetzungen für Durchsagen waren gegeben, wurdenallerdings nicht genutzt.
Die Verhandlung endete mit dem Ausspruch des Richters, dass die Schilderung von Seiten des Klägers plastischwar und dem Zusatz: „Ich sag mal so, als Asylbewerber hätten Sie eine gute Chance gehabt. Da hätte ich Ihnen ausnahmsweise geglaubt.“
Urteilsbegründung
Der Richter hatte in der Verhandlung bekräftigt, dass „das äußere Geschehen unbestritten ist“. Allerdings übernimmt er in der Urteilsbegründung die Narrative der Polizeizeug*innen und bastelt sich daraus seine eigene Version zusammen. Er stellt sie als Tatsache dar und schenkt den Aussagen des Klägers nur soweit Glauben sofern sie dazu passen.
„Der Kläger hat im Rahmen der informatorischen Anhörung den festgestellten Sachverhalt in weiten Teilen bestätigt. Er hat ebenfalls angegeben, dass etwa 60 – 70 Personen anwesend gewesen seien. Auch hat er vom Vorrücken der Polizeikette unter Einsatz von Schlagstockhieben und Reizgas berichtet. Abweichungen ergaben sich letztlich allein dahingehend, ob es seitens der anwesenden Personen zu Gewaltanwendungen gegenüber den Polizeibeamten gekommen sei. Der Kläger hat hierzu angegeben, dass die Teilnehmer friedlich beieinandergestanden hätten, zum Teil eingehakt gewesen seien und es von ihrer Seite kein aggressives Verhalten gegenüber den Polizeibeamten gegeben habe. Dem folgt das Gericht nicht. Aufgrund der übereinstimmenden und glaubhaften Angaben der vernommenen Zeugen geht das Gericht davon aus, dass es beim Vorrücken der Polizeikette zu massiven Handlungen der den Streifenwagen einschließenden Personen gegenüber dem Polizeibeamten gekommen ist.“
Laut dem Richter sind die Attacken der Polizei „von Ihrer Eingriffsintensität bereits als gering zu bewerten und standen daher keinesfalls in einem Missverhältnis des damit verfolgten Ziels.“ Jedoch sei die – mit Schutzausrüstung, Zwangsmitteln und staatlicher Legitimation ausgestattete – Polizei gefährdet gewesen. „Ein Herantreten an die Personen seitens der Polizei wurde somit verhindert, jedenfalls aber sehr erschwert und ging mit erheblichen Gefahren für die Polizeibeamten einher.“
Der Richter entschied, dass die Klage „teilweise zulässig“ sei (nicht jedoch was den Einsatz von Reizgas betrifft, weil er schlicht behauptet dass der Kläger davon nicht betroffen war). Die Klage sei allerdings insgesamt „unbegründet“, denn „Die Anwendung des unmittelbaren Zwanges erweist sich in den Fällen, indem der Kläger davon betroffen war, als rechtmäßig.“ Dafür führt er folgende Gründe an:
– Er streitet entschieden ab, dass es sich um eine Versammlung gehandelt hat. Dafür müssen sogar so seltsame Argumente herhalten wie „Die Einschätzung, dass der Meinungskundgabe allenfalls nur eine sehr untergeordnete Rolle zukam, wird dadurch untermauert, dass die Zusammenkunft in der Nacht stattgefunden hat. Eine Wahrnehmbarkeit der Meinungskundgabe in der Öffentlichkeit war mithin – bis auf die umliegenden Häuser – nicht zu erwarten.“
– Auch die Begründung, dass die Cops einen klaren Auftrag hatten, liest sich nicht unbedingt beruhigend: „Die gegenüber dem Kläger ergriffenen Zwangsmaßnahmen erweisen sich als formell rechtmäßig.“ denn: „An der Zuständigkeit der handelnden Polizeibeamten bestehen keine Zweifel“
– Das Gericht kommt zu der Auffassung, dass ein Platzverweis ausgesprochen worden war und falls der Kläger sagen wollte, dass er den Platzverweis nicht wahrgenommen hat, „betrachtet das Gericht dies als Schutzbehauptung.“ (also Lüge).
Zur gewaltvollen Ausführung der Räumung sagt der Richter: „Das Vollstreckungsverfahren, d.h. die Art und Weise der Vollstreckung, war ebenfalls nicht zu beanstanden.“ Als Begründungen werden aufgeführt:
– „Eine vorrangige Anwendung anderer Zwangsmittel […] kam zur Erreichung des Ziels, die Blockade um den Streifenwagen aufzulösen, nicht in Betracht, da sich die polizeiliche Anordnung auf eine unvertretbare Handlung richtete und ihre Durchsetzung keinen zeitlichen Aufschub duldete.“ Mit „unvertretbare Handlung“ meint der Richter die Zivilcourage der Menschen, die gegen die Durchführung der rechtswidrigen Abschiebung protestiert haben.
– Obwohl gilt: „Gemäß § 58 Abs. 1 HSOG ist unmittelbarer Zwang grundsätzlich vor seiner Anwendung anzudrohen.“ war es scheinbar in Ordnung dass das nicht passiert ist, „weil von der Androhung abgesehen werden durfte.“. Auch eine Lautsprecherdurchsage sei „nicht erforderlich“ gewesen. Und weiter: „Die Androhung ganz konkreter Zwangsmaßnahmen würde zudem die Effektivität der Gefahrenabwehr infrage stellen.“
Als Fazit lässt sich festhalten: „Damit war sowohl der Einsatz einfacher körperlicher Gewalt als auch der Einsatz des Schlagstockes hinreichend bestimmt angedroht worden.“ und „Das Vollstreckungsverfahren, d.h. die Art und Weise der Vollstreckung, war ebenfalls nicht zu beanstanden.“
Dieses Urteil tritt einmal mehr die Erfahrungen die die Demonstrierenden in der Nacht machen mussten mit Füßen. Absurde Vorwürfe von Seiten der Polizei wie „besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs“ haben sich längst als haltlos erwiesen und daraus resultierende Strafverfahren gegen Demonstrierende und unbeteiligte Anwohner*innen wurden eingestellt – die ersten beiden Klagen gegen die Polizei wurden jedoch abgewiesen. Teils mit sehr fadenscheinigen Begründungen, teils mit offener Ablehnung der gezeigten Zivilcourage. Obwohl es ein mit diversen Videoaufnahmen außergewöhnlich gut dokumentierter Fall von Polizeigewalt ist und unverhohlene Todesdrohungen von Seiten von Polizeibeamt*innen während des Einsatzes inzwischen nicht einmal mehr von der Polizei selbst abgestritten werden, reicht das anscheinend nicht aus, um den Glauben des Gerichts an die Fiktion einer rechtmäßig und angemessen handelnden Polizei ins Wanken zu bringen.
Der Kläger sagt zur Urteilsbegründung: „Zusammenfassend lässt sich herauslesen, dass die Polizeibeamt*innen nach Ansicht des Richters alles richtig gemacht haben. Dieses Ergebnis zeigt einmal mehr, dass das Problem im System liegt.“
Im System eines Staates, der systematische Rechtsverletzungen bei Abschiebungen aktiv fördert, der kein Interesse an der juristischen Aufarbeitung von Polizeigewalt und an der Auseinandersetzung mit einem strukturellen Rassismusproblem innerhalb der Polizei hat und der Anti-Abschiebeproteste mit Repression überzieht.
Der Richter spricht davon dass sich durch die gezeigte Zivilcourage ein „Schaden für die öffentliche Sicherheit bereits realisiert“ habe. Das ist mehr als zynisch. Wir sagen: durch Abschiebungen realisiert sich vor allem ein Schaden für die Menschlichkeit und für gesellschaftliche Werte.
Weiter spricht er von einer “Verletzung der Freiheit der Polizeibeamten“. Es waren jene uniformierten Polizeibeamten, die einen Menschen rechtswidrig seiner Freiheit beraubt haben indem sie nachts in seine Wohnung einbrachen und ihn aus dem Schlaf heraus festnahmen.
Für die Betroffenen die am 23.04.2018 gegen die Abschiebung protestiert haben ist der Ablauf der Aufarbeitung sehr schmerzhaft: Zuerst die Polizeigewalt zu erleben, direkt danach gegen die tendenziöse und unprofessionelle Berichterstattung (die lediglich die erfundene Version der Polizei wiedergab) anschreiben zu müssen. Im Anschluss Repression gegenüber Einzelpersonen aushalten zu müssen. Wenn wir vor Gericht ziehen, uns die verzerrten Schilderungen aus Polizeisicht erneut anhören zu müssen und mit den Tätern von damals konfrontiert zu sein, was ein hohes Potential zu Retraumatisierung beinhaltet. Und am Ende noch mit einer gehässigen Urteilsbegründung zur Abweisung der Klage umzugehen.
Es macht uns mutlos, doch es macht uns auch wütend. Denn es ist klar dass diese Effekte explizit gewollt sind, um politischen Protest gegen die Abschiebepolitik einzudämmen. Der Richter schreibt selbst: „Rechtswidrige Abschiebungen zu unterbinden, ist Aufgabe der Gerichte und nicht von Freunden, Mitbewohnern und Sympathisanten unter Zuhilfenahme rechtsstaatlich illegitimer Mittel.“ Da die Gerichte dieser Aufgabe aber eben nicht in ausreichendem Maße nachkommen und selbst wenn Gerichtsentscheide vorliegen durch rigorose Abschiebungen häufig einfach Fakten geschaffen werden, die selbst bei Nachweis der Rechtswidrigkeit hinterher schwer rückgängig zu machen sind, ist dieser Protest zwingend notwendig. Denn Abschiebungen sind menschenverachtend. Sie passieren ständig, mitten in unseren Städten, und wir wissen es alle.
Über uns:
„KriPro Witzenhausen“ (Kritische Prozessbegleitung 23.04.2018 Witzenhausen – Initiative gegen Polizeigewalt) ist ein Zusammenschluss von Betroffenen der Polizeigewalt vom 23. April 2018 und sich solidarisierenden Menschen.
Für Feedback und Vernetzung schreibt uns gerne eine E-Mail an antirep23@riseup.net.
Presseanfragen bitte an presse_witzenhausen2304@riseup.net.
Wir twittern auf @KriPro2304 und unter #KriPro2304.
Spende gegen Repression:
Konto „Spenden&Aktionen“
Betreff (bitte angeben!): „KriPro Wiz“
IBAN: DE29 5139 0000 0092 8818 06
BIC: VBMHDE5F
1https://bildblog.de/98124/hier-spricht-die-polizei-redaktionen-bitte-selbst-recherchieren/